Porträt Michael Felten.

Michael Felten: Mein Standpunkt

Nie wieder gegen
Russland zündeln

Michael Felten lebt in Köln. Er hat 35 Jahre als Lehrer gearbeitet und ist jetzt als pädagogischer Publizist tätig. Ihn beschäftigt heute aber etwas anderes: die deutsch-russische Völkerverständigung mit Blick auf den 9. Mai 1945


Das hätte ich mir echt nicht träumen lassen. In einer Freundesgruppe waren wir für 10 Tage nach Sankt Petersburg aufgebrochen, der zweitgrößten Stadt Russlands. Ich war zunächst ein wenig besorgt gewesen – ich fliege nicht gern, dann die fremde Schrift und Sprache, überhaupt: der Osten. Ihrer vielen Wasserläufe wegen nennt man die Stadt auch «Venedig des Nordens», bei Touristen ist sie beliebt wegen der Kunstschätze, der prachtvollen U-Bahn, der Stadtatmosphäre. Das haben wir alles gesehen, aber jetzt, in einem Außenbezirk, stehe ich in einer weiten Parkanlage, vor einer riesigen weiblichen Statue, die die Arme ausbreitet, «Mutter Heimat» – und kämpfe tatsächlich mit den Tränen.

Ich bin historisch nicht gerade unbeleckt, aber mir war bisher einfach nicht klar, welch furchtbares Unheil die deutsche Wehrmacht in dieser Gegend im Zweiten Weltkrieg angerichtet hat. Eine von Hitlers Wahnideen war gewesen, den europäischen Teil Russlands als Versorgungsraum für die arische Rasse zu kolonisieren. Die Russen sah er dabei als «Untermenschen» an, die er nicht einfach besiegen, sondern lieber gleich ausrotten wollte. Daher der Plan, Leningrad (und eigentlich auch Moskau) gar nicht erst zu erobern, sondern die Menschen durch eine vollständige Blockade einfach verhungern zu lassen.

Jetzt schreite ich also über die Weite des Piskarjowskoje-Gedenkfriedhofs, einer Massenbegräbnisstätte für 470.000 Opfer dieser Blockade und ihrer Abwehr. Insgesamt waren es über eine Million Zivilisten, die während 900 Tagen, darunter 3 bitterkalten Wintern verhungern mussten. Würde man an jeden Einzelnen nur eine einzige Minute denken, wäre man zwei Jahre beschäftigt. Hinter der Kolosssalstatue lese ich auf einer 4,5 Meter hohen Granitmauer ein Gedicht von Olga Bergholz, einer Überlebenden dieser Zeit: «Hier liegen Bürger – Männer, Frauen und Kinder. Neben ihnen Soldaten der Roten Armee. Mit ihrem Leben verteidigten sie Dich, Leningrad.»

Ja, die Leningrader haben sich nicht unterkriegen lassen: auf jedem Quadratmeter Stadtland Ackerbau betrieben, die Tram bei zerschossener Oberleitung mit vereinten Kräften weitergeschoben, über die zugefrorene Ostsee unter deutschem Granatenhagel evakuiert und versorgt, trotz abnehmender Nahrungsrationen weiter unterrichtet und Konzerte gegeben. Ein Junge beschreibt, wie er täglich mit sich ringt, von den Rationen der anderen einige Krümel wegzunehmen. Eine Mutter konnte nur mit dem Fleisch ihres verstorbenen Kindes dem Geschwister das Überleben retten – und ist dabei schier verrückt geworden. Man sollte unbedingt das Jugendbuch «Oleg» lesen, auch als Erwachsener. Und sich den Film «Leningrad Symphonie» ansehen.


Flugabwehrkanonen.

Allzu realitätsnahe Berichte dieses Grauens waren in der Stalinzeit offiziell unbeliebt, galten als zu wenig patriotisch oder parteiideologisch korrekt. Mittlerweile sagen auch westliche Historiker: Die Blockade Leningrads war eines der eklatantesten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht. Und das ist ja nur ein Teil des Horrors, der am 9. Mai 1945 zu Ende ging. Der gesamte Angriffskrieg Hitlers gegen die Sowjetunion hat mindestens 24 Millionen Russen das Leben gekostet.

Als Besucher aus Deutschland komme ich nicht umhin, mich darüber zu wundern, wie freundlich die russische Bevölkerung heute zu uns ist. Und mit welchem Großmut ein Überlebender vor einigen Jahren im Bundestag sprach. Heute gibt es wieder Kräfte, die in Richtung Osten zündeln.

Es darf aber für uns Deutsche nicht nur heißen: Nie wieder Auschwitz! Sondern auch: Nie wieder gegen Russland!

 

Dieser Beitrag erschien am 8. Mai 2018 unter der Rubrik «Mein Standpunkt» im Kölner Stadt-Anzeiger.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung durch Herrn Michael Felten und den Kölner Stadt-Anzeiger.
Foto von Michael Euler-Ott mit freundlicher Genehmigung durch den Autor.
Foto Luftangriff… von Unbekannt, gemeinfrei