Gedenkveranstaltung in der Wenzelnbergschlucht
am 18. April 2010, 11 Uhr
Sehr geehrte Damen und Herren,
zu Beginn meiner Ausführungen möchte ich mich bei der VVN-BdA, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes–Bund der Antifaschisten für das Vertrauen bedanken, das sie mir – ohne dass ich Mitglied dieser Organisation bin – entgegenbringen, indem sie mir ihren Programmpunkt, ihre Möglichkeit eine warnende Stimme zu sein, an mich abgetreten haben.
Und gleichzeitig bitte ich um Verständnis, dass die eine oder andere Bemerkung von mir nicht der VVN zum Nachteil gereichen möge.
»Den Toten zum Gedenken – den Lebenden zur Mahnung!« – dies steht hier zum Gedenken an die 71 Häftlinge, die hier kurz vor der Befreiung vom Faschismus im April 1945 ermordet wurden.
Gedenken und Mahnung sind mir eine moralisch-politische Verpflichtung zu Ihnen zu sprechen, mich einerseits darüber zu schämen, dass ich in Solingen in einer Stadt wohne und mich ihr zugehörig fühle, in der vor nur 65 Jahren derartige Verbrechen gegen die Menschlichkeit durchgeführt werden konnten, mich andererseits aber auch darüber zu freuen, dass ich gerade in dieser Stadt Solingen wohne, die eine alte und tief verwurzelte sozialistische Arbeitertradition aufweist.
Ich will heute über drei Dinge zu Ihnen sprechen. Was ist Faschismus? Was ist Islamfeindlichkeit? Was kann man gegen beides tun?
Wenn ich mit dem Slogan anfange »Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen«, dann ist das weitaus mehr als ein Slogan. Hinter diesem Satz steht vor allem und an erster Stelle das millionenfache Leiden von Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuellen, Roma und Sinti, Zeugen Jehovas, Kriegsdienstverweigerern und wandernden Handwerksgesellen (Schächte), also den vielen, vielen KZ-Opfern. Dieses Leiden und besonders der deutsche Holocaust in Auschwitz, Treblinka oder Buchenwald sind mit keinem Wörtchen zu relativieren. Sie sind schwerster Völkermord und grausamste Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Faschismus ist also nicht nur unmoralisch, sondern zutiefst rechtswidrig. Er widerspricht allen uns geläufigen und wichtigen demokratischen Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Völkerrecht.
Faschismus als spezifisch deutsche Erfahrung ist außerdem verknüpft mit Terror, Willkür und Millionen von Toten, mit Nationalismus und Rasseideologien, mit Obrigkeitsstaat, Befehl und Gehorsam und mit Angriffskrieg, Imperialismus und kriegerischer Unterjochung von halb Europa.
Faschismus ist Verrat an allen aufklärerischen Idealen, sei es Goethe, die deutsche Romantik oder der Marxismus; Faschismus war und ist das Ende jeder Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit; Faschismus war und ist das Ende von internationaler, interkultureller und grenzüberschreitender brüderlicher und schwesterlicher Solidarität.
Im Kreis der Familie heißt Faschismus blinder Gehorsam gegenüber dem Vater, Prügel als erlaubtes Erziehungsmittel, die Untertanenrolle der Frau gegenüber dem Ehemann und eine äußerst verklemmte, rigide und repressive Sexualmoral, meist sogar Doppelmoral.
Die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzkrise hat uns alle und glücklicherweise wieder sensibel für große Grundsatzdiskussionen gemacht. Endlich diskutieren auch solche Menschen, die dafür noch bis vor kurzem taub und blind waren, wieder darüber was Kapitalismus ist. Und spätestens hier muss man auch an den berühmten Ausspruch des deutsch-jüdischen Philosophen Max Horkheimer denken, nämlich. »Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll über den Faschismus schweigen«. Anders formuliert: Ist Faschismus die notwendige Antwort auf die Krise des Kapitalismus? Gelingt es einem politischen System nicht mehr, die Menschen ökonomisch in den Griff zu bekommen, müssen dann despotische Mittel her? Stehen wir also kurz vor einem neuen Faschismus? Ist genau dieses Moment der politische Stellenwert beim gegenwärtig massiven Abbau bürgerlicher Freiheitsrechte, sei es beim Datenschutz, der Online-Rasterfahndung oder der Telefonüberwachung?
Mit gutem Recht werden daher die Bürger des Solinger Bündnisses »Bunt statt Braun« am 1. Mai gegen die politischen Zumutungen von NPD und pro NRW auf die Strasse gehen und demonstrieren. Wir Gewerkschafter werden sehr lautstark und sehr massiv Flagge zeigen, dass faschistische oder faschistoide Umtriebe in Solingen nichts zu suchen haben.
Doch wenn es um NPD und pro NRW geht, dann muss man sich sehr wohl darüber im Klaren sein, dass unsere Gesellschaft weder in den 20er Jahren noch heute von ihren Rändern her bedroht und aus den Angeln gehoben wurde, sondern stets aus der Mitte. Mitten in unserer gegenwärtigen ökonomischen Krise ist es wieder die Mittelschicht, die sich in seiner Existenz von oben und unten gleichzeitig bedroht fühlt und sich genau deswegen radikalisiert.
Rufe nach »Endlich wieder mehr Ordnung«, »Weg mit den Alkis aus der Innenstadt«, »Der Bremshey-Platz muss wieder ein Schmuckstück werden«, »Fleiß muss sich wieder lohnen« und »Die kümmern sich nicht um ihre Kinder, sondern produzieren dauernd neue Kopftuchmädchen«: solche unerträglichen Beiträge kommen nicht von Arbeitslosen, sie kommen nicht von Hartz IV-Empfängern, sie kommen nicht vom herab gesunkenen Proletariat, nein, sie kommen aus der Mitte unserer Gesellschaft und sie zündeln höchst gefährlich mit Vorurteilen und Rassismus. Es ist diese rechtslastige, populistische und dumpfe Stimmungsmache, die von der Mitte kommt, die die Ränder radikalisiert und ohne die weder NPD noch pro NRW erfolgreich sein könnten.
Und nun muss ich mich an dieser Stelle auch deutlich und scharf von jeglicher Gleichsetzung zwischen Rechts- und Linksradikalismus, zwischen den Nazis und der DDR abgrenzen. Solche Vergleiche sind zwar in aller Munde, sie sind aber dennoch geschichts- und strukturblind, dumm und hochgradig ideologisch. Die DDR war ganz sicherlich keine Demokratie, aber diesen Staat kann man aus drei Gründen nicht mit dem Dritten Reich gleichsetzen. Erstens: Die DDR hat keinen Krieg angefangen. Zweitens: In der DDR gab es keine KZs. Drittens: Und im Gegensatz zu Nazi-Deutschland, dessen politisches Verhalten aus sich selbst heraus erklärt werden kann, ist jedes Verhalten der DDR nur in einer gleichzeitigen Analyse des Verhaltens der damaligen Sowjetunion zu verstehen.
Ich kann deswegen nur wiederholen: »Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen«.
Ich komme damit zu dem zweiten Punkt meiner Rede, nämlich der Islamfeindlichkeit. Und um was es hier geht, möchte ich Ihnen mit zwei Zitaten verdeutlichen. Da behauptet zum einen jemand, dass Muslime »hysterische Glaubenstiere« seien und da macht zum anderen eine Politikerin folgenden Vorschlag: »Wir sollten im Stadtpark ein Tierbordell errichten, damit die muslimischen Männer dorthin gehen können und sich nicht an den Mädchen im Stadtpark vergreifen.« Das erste Zitat stammt von Ulla Unseld-Berkéwicz, Inhaberin des Suhrkamp-Verlages und damit eine der kulturpolitisch einflussreichsten Linksintellektuellen in unserem Land und das zweite Zitat stammt von Susanne Winter, einer österreichischen Politikerin der rechtsradikalen Partei FPÖ. Man sieht: Islam-Bashing ist sowohl bei Linken als auch bei Rechten salonfähig!
Mich erinnern solche unerträglichen und durch keine Begründung zu rechtfertigenden Attacken an den evangelischen Pastor Martin Niemöller (mit ich dem als zehnjähriger Junge übrigens mehrfach sprechen konnte, da er Nachbar unserer Wohnung in Wiesbaden war und dessen warme und mahnende Worte Teil meines Politisierungsprozesses sind.) Warum muss ich gerade an ihn denken, einen Konservativen, der sich im Lauf seines Lebens in einen Linken verwandelt hatte und der von 1937 bis 1945 in den KZs Sachsenhausen und Dachau einsaß? Einfach deswegen, weil seine folgenden Gedichtzeilen auch für Muslime gelten:
»Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich geschwiegen,
ich war kein Gewerkschafter.«
Und an dieser Stelle erlaube ich mir folgende Ergänzung: »Als sie die Muslime verhöhnten, beschimpften und diskriminierten, habe ich geschwiegen, denn ich bin modern und Religion ist sowieso Opium für’s Volk!«
Und Martin Niemöller beendete sein Nachdenken mit dem folgenden Dreizeiler:
»Als sie mich holten,
gab es keinen mehr,
der protestieren konnte.«
Was passiert gegenwärtig in unserem Land, dass wichtige Leute – so genannte Public Opinion Leader, so genannte Vorbilder und so genannte Intellektuelle – derartig Menschen verachtende Sätze äußern dürfen, ohne dass die Staatsanwaltschaft wegen Volksverhetzung aktiv wird und ohne dass in der gesamten Öffentlichkeit ein Schrei der moralischen Empörung laut wird? Haben wir denn immer noch nichts aus der Geschichte gelernt, so als ob wir nicht wüssten, dass Hassreden nur allzu schnell in Hasstaten hinüber gleiten können? Müssten wir uns nicht jetzt und sofort schützend vor Muslime stellen, ihnen unsere Solidarität anbieten und jedem, der das anders sieht, sehr laut entgegen rufen »MIT MIR NICHT?« Warum entsolidarisiert sich unsere Gesellschaft immer mehr?
Ich komme mit dieser Frage zum dritten und letzten Teil meiner Rede, also »Den Lebenden zur Mahnung!« und frage, was man gegen faschistische Tendenzen und Islamfeindlichkeit tun kann?
Ich bin froh, dass wir angesichts von gleich zwei Menschen verachtenden Großveranstaltungen am 1. Mai in Solingen ein kräftiges und sehr breites Bündnis »Bunt statt Braun« dagegen zusammen bekommen haben. Lassen Sie uns an diesem Tag sowohl die NPD als auch pro NRW kräftig in ihre Schranken verweisen.
Noch ist nur wenigen Menschen bekannt, dass der DGB Solingen am 1. Mai 2007 bundesweit etwas einmalig Neues veranstaltet hat, nämlich eine gemeinsame Gebetsandacht zum Tag der Arbeit zusammen mit der Moschee des Türkisch-Islamischen Kulturvereins in der Kasernenstrasse. Diese Andacht findet auch an diesem 1. Mai um 9:30 Uhr statt. Nehmen Sie teil – im Sinne des Gedichtes des evangelischen Protestanten Martin Niemöller sind wir alle Muslime!
Nehmen Sie außerdem am 1. Mai-Gottesdienst von DGB und christlichen Kirchen in der Lutherkirche um 9:00 Uhr teil. Predigt und Lieder stehen unter dem Motto »Bunt statt Braun«, denn im dritten Buch Mose heißt es: »Der Fremde, der sich bei Euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten.«
Und schließlich: Nehmen Sie bitte alle an unserer diesjährigen traditionellen Maikundgebung teil, nehmen Sie bitte alle teil, denn wir wollen und müssen einer bundesweit öffentlichen Medienaufmerksamkeit für diesen Tag sehr eindeutig und machtvoll demonstrieren, dass es ein buntes, kräftiges, vitales, lustiges und sozial engagiertes Solingen gibt und eben nicht ein Solingen von Neo-Nazis und rechten Dumpfbacken.
Die eigentliche Ursache für Islam-, Fremden- und Ausländerfeindlichkeit gründet freilich weniger in irgendwelchen Feindbildern und Vorurteilen, sondern darin, dass unsere Gesellschaft seit rund 15 Jahren immer ungerechter wird und dass diese soziale und ökonomische Dauer- und Großkrise viele Menschen nach rechts in eine unheilvolle Welt von Angst, Wut, Gewalt und Stumpfsinn abdriften lässt. Gerade einem Gewerkschafter ist genau dieser Zusammenhang sehr wohl bewusst! Aber das ist ein anderes Thema, über das ich heute nicht reden wollte.
»Den Lebenden zur Mahnung!« möchte ich meine Rede mit einigen Zeilen von Kurt Tucholsky beschließen: »Denn nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: NEIN!«
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!