Huckleberry Finn
Die konservative Presse hatte einen ziemlichen Rochus auf Mark Twains »jämmerlich schäbigen, vulgären, klauenden und lügenden Jungen«. »Eltern, die ihren Kindern eine vielversprechende Zukunft wünschen«, sollten es sich gut überlegen und diesen schändlichen Bengel nicht »ohne Zögern zur Tür einlassen«, hieß es bei Erscheinen der »Abenteuer von Huckleberry Finn« im Jahr 1884. Warum eigentlich nicht? Weil er Lumpen trägt, einen räudigen Slang spricht und es mit den bürgerlichen Tugendparagraphen nicht ganz so genau nimmt? Geschenkt. Weil er einem Sklaven zur Flucht verhilft »und dafür sogar zur Hölle fahren will«? Das ist der eigentliche Skandal des Buchs.
In der Figur dieses naiven, ungebildeten, aber hochmoralischen Prachtkerls, den sich jeder Leser mit einem Herz zum Freund wünscht, dokumentiert Twain den landläufigen, geradezu habituellen Rassismus des 19. Jahrhunderts – und den schmerzhaften Prozess der Überwindung.
Das ist die Ausgangsposition: Huck erzählt von einem Dampferunglück, und die herzensgute Tante Sally erkundigt sich besorgt:
»Herr im Himmel! Irngwer verletzt?«
»Nee, M’m. ’n Nigger tot.«
»Na, was ’n Glück; denn manchmal werden da Leute bei verletzt …«
Frank Schäfer
in jungeWelt
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