Aufruf
Als am 9. November 2004 eine Horde Neonazis durch Leverkusen marschierte, war der empörte Aufschrei groß: Die (Neo-) Nazis wollten ihren Hass ausgerechnet an einem der geschichtsträchtigsten Daten der deutschen Vergangenheit verbreiten. 1923 versuchten sich Adolf Hitler und seine Vasallen an diesem Datum an die Macht zu putschen; 1938, Hitler und die Schergen hatten das Land fest im Griff, organisierte die Naziführung die Reichspogromnacht. Unter dem Motto "Kein Vergeben - Kein Vergessen!" wollen wir auch in diesem Jahr den Opfern der Gräueltaten der euphemistisch "Reichskristallnacht" genannten Ausschreitungen von 1938 gedenken und gleichzeitig den mittlerweile schon alltäglichen Neonazi-Terror thematisieren.
9. November 1938: Reichspogromnacht
Nach einer Serie von Verhaftungen polnischer JüdInnen in Deutschland und ihrer späteren Abschiebungen schoss der junge Herschel Grynspan am 7. November aus Angst um seine Familie den deutschen Diplomaten von Rath nieder.
Die Führungsriege der Nazis verklärte die Verzweiflungstat Grynspans zu einem "Attentat des Weltjudentums" und sah darin die Legitimation für ihr perfides Vorhaben: Über ihren Propaganda-Apparat schürten sie im ganzen Land antisemitische Stimmungen und bereiteten landesweite antijüdische Aktionen zur Einschüchterung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung vor.
Bereits am Abend des 7. Novembers ergingen konkrete Anweisungen an sämtliche NS-Verbände, wie die geplanten Ausschreitungen auszusehen hätten:
Im ganzen Land sollten demnach "spontane" antijüdische Versammlungen, Kundgebungen und Aufmärsche organisiert werden, aus denen heraus SA-Männer in Zivilkleidung jüdische Wohnungen, Geschäfte und Synagogen angreifen sollten.
Dann zwei Tage später, am 9. November 1938, begannen die mehrtägigen Pogrome. Innerhalb von vier Tagen wurden fast 8.000 jüdische Geschäfte geplündert und zerstört, mindestens 267 Synagogen wurden niedergebrannt oder gesprengt.
Zeitgleich wurden über 25.000 JüdInnen verhaftet. Während 91 Menschen jüdischen Glaubens direkt ermordet wurden, deportierten die Nazis weitere 3.000 von ihnen in Konzentrationslager (KZ). Viele fanden dort den qualvollen Tod durch Zwangsarbeit oder Massenmord in den Gaskammern.
Währenddessen in Leverkusen.
Auch Leverkusen war in das NS-Regime vollends integriert. Die Strukturen der Nazis vor Ort unterschieden sich kaum von anderen Städten. Eine Besonderheit Leverkusens stellten jedoch die hier ansässigen IG-Farben Werke dar, dem Vorläufer der heutigen Bayer AG.
In den Werken wurden tausende ZwangsarbeiterInnen unter unmenschlichsten Bedingungen für die deutsche (Kriegs-) Industrie ausgebeutet und mussten sich zu Tode schuften.
Die Tochterfirma der IG-Farben, DEGESCH vertrieb das Giftgas "Zyklon B" - jenes Gas welches zum qualvollen Tod von Millionen von Menschen in den Gaskammern der KZs führte.
9. November 1938 - Leverkusen
Parallel zu den landesweiten Pogromen schlug der nationalsozialistische Mob auch hier bei uns in Leverkusen zu: Schon am 8. November wurden im gesamten Stadtgebiet antijüdische Kundgebungen organisiert.
Einen Tag später erreichte eine Direktive der Gestapo-Leitstelle Düsseldorf die örtlichen Polizeireviere, in der beschrieben wurde, wie sich die Polizei bei den bevorstehenden Gewaltexzessen zu verhalten habe:
So sollte sichergestellt werden, dass "nichtjüdische" Geschäfte geschützt werden und Brände so gelegt werden, dass das Feuer nicht auf andere Gebäude übergreift. In der Nacht auf den 10. November warfen Mitglieder der Leverkusener NSDAP die Fensterscheiben sämtlicher jüdischen Geschäfte in Wiesdorf ein und verhafteten zwei JüdInnen.
In derselben Nacht begann der Ortsgruppenleiter der NSDAP Opladen ebenfalls Übergriffe zu organisieren. So begab er sich noch in der Nacht gemeinsam mit drei weiteren NSDAP-Mitgliedern und einem Polizisten zur Synagoge in der heutigen Altstadtstr. und verwüstetete dort die komplette Inneneinrichtung. Anschließend wurde die Synagoge von der Opladener Bevölkerung geplündert.
Am nächsten Tag postierten sich SA-Angehörige und NSDAP-Mitglieder vor der Synagoge und versuchten immer wieder Passanten, besonders Kinder zu animieren, Fensterscheiben einzuwerfen und Feuer zu legen.
Am Nachmittag war es dann soweit, die Synagoge stand in Flammen. Als die Feuerwehr schließlich eintraf, war nichts mehr zu retten: die Synagoge war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Lediglich ein Übergreifen des Brandes auf benachbarte Gebäude wurde verhindert. Ein beteiligter Feuerwehrmann berichtete später, dass es Befehle gab, die ein Ausrücken solange hinauszögerten, bis sichergestellt sei, dass von dem jüdischen Gebäude nichts mehr übrig bleibe.
Gleichzeitig wurden in Opladen neun JüdInnen festgenommen, von denen einige in Konzentrationslager deportiert wurden.
2005 - das Jahr der Gedenken
Im Jahr 2005, 60 Jahre nach Kriegsende, erfasste die BRD ein großer Sog von "Gedenkveranstaltungen" jeglicher Couleur. Ob staatlich organisierte, zentrale Veranstaltungen wie zum 8. Mai in Berlin oder vor allem die vielen regionalen, von der Gesamtöffentlichkeit weniger wahrgenommenen Kundgebungen und Demonstrationen.
Was positiv begann, entwickelte sich zusehend zu einer immer unheimlicheren Art des Gedenkens. Weniger die Schrecken der Nazi-Diktatur, oder der millionenfache industrielle Massenmord in den zahlreichen Konzentrationslagern fanden ihre Erwähnung, stattdessen wurden die "deutschen Opfer" ins Zentrum der Öffentlichkeit gerückt. Multimedial wurden Themen wie "Krieg an der Heimatfront" oder "Die Bombenhölle von Dresden" aufbereitet. Ob NSDAP-Mitglied, SA-Schläger oder Wehrmachtssoldat, kollektiv wurden nach und nach alle zu Opfern, wahlweise des "Verführers Adolf Hitler" oder der "Rache" der Alliierten. Kein Wort mehr davon, dass sich die NS-Führungsriege auf breite Unterstützung in der Bevölkerung berufen konnte; dass sich Massen freiwillig meldeten, um gegen "Bolschewismus und Judentum" in den Krieg zu ziehen oder als SS-Sadist in KZs zu foltern und zu morden.
Hand in Hand gingen dabei bürgerliche Kräfte mit den Konservativen und Rechtsextremisten. So ist es weniger verwunderlich, als vielmehr erschreckend, dass Holger Apfels (NPD) Äußerungen im sächsischen Landtag, als er die Angriffe der Alliierten auf deutsche Städte als "Bombenholocaust" bezeichnete, Applaus und Zustimmung auch aus der so genannten Mitte der Gesellschaft ernteten.Getragen von diesem Zuspruch marschierten zwei Wochen später 5.000 Neonazis durch Dresden.
Auch in Leverkusen versuchten die Neonazis ihr verqueres Geschichtsverständnis in die Öffentlichkeit zu tragen. So marschierte am 9.November 2004 die extreme Rechte unter dem Motto "Gegen einseitige Vergangenheitsbewältigung" und verhöhnte mit Rufen wie "Die schönsten Nächte überall, sind die Nächte aus Kristall" die Opfer von NS-Verbrechen. Wenige Monate später, bei ihrem dritten Aufmarsch in Leverkusen, verherrlichten sie den verurteilten Kriegsverbrecher Rudolf Heß als "Friedensflieger".
Wer, den Opfern des Faschismus ernsthaft gedenken will,
muss sich bewusst sein, dass deutsche Täter keine Opfer sind.
Es ist und bleibt daher wichtig, Geschichtsrevisionisten aus der Neonazi-Szene
und auch aus der bürgerlichen Mitte entschieden entgegenzutreten.
Deshalb:
Lasst uns am 9. November 2005 gemeinsam auf die Straße gehen,
um den Opfern des Faschismus zu gedenken und ein Zeichen
gegen Revisionismus und Neonazismus zu setzen.
Geschichtsrevisionismus bekämpfen!
Kein Fußbreit dem Faschismus!
Antifaschistische Aktion LEVerkusen - [AALEV],
Oktober 2005
Unterstützt wird der Aufruf durch:
Kulturvereinigung Leverkusen e.V.,
Initiative 9. November und versch. Einzelpersonen
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